Charles Canary macht sich so seine Gedanken zur EURO 2024. Über Fußball, Zentimeter, künstliche Intelligenz, VAR und mehr…

Hüpfende, johlende Menschenmassen. Brodelnde Biergärten und von Menschen überflutete Fanmeilen. Hoffnungsvolle, gar verzweifelte Versuche die wirtschaftliche, gesellschaftliche Tristesse zu übertünchen.

Rein fußballerisch gilt es tüchtige Abstriche zu machen. Verwöhnt von Champions League Fußball scheint es sich manchmal fast um eine andere Sportart zu handeln. Allein der Vergleich hinkt. Die nationale Ansammlung von Ballkünstlern reicht nicht aus, um das dargebotene Spektakel der elitären Champions League zu imitieren. Dort werden mit Abermillionen Ensembles aus Topspielern zusammengekauft und durch tägliches, monatelanges Training wird eben dieses exquisite Weltklasseniveau erreicht.

Dagegen steht der Nationalmannschaftsfußball. Ein paar Auserlesene werden in eine 5-Sterne-Jugendherberge eingeladen, um in einem wochenlangen Ausscheidungskampf in den Wettbewerben Tischtennis oder Play Station – unterbrochen durch gelegentliche Fußballspiele – den Klassenbesten zu ermitteln. Die dazugehörigen Trainer sind im Hauptberuf Campingplatzbesitzer und konkurrieren dann als „Teilzeit-Minijobber“ vor den Augen der Fußballweltöffentlichkeit um den Titel als Huub-Stevens-Imitator („die Null muss stehen“).

Doch auch wenn sich die nach Begeisterung lechzenden Massen schon nicht aufgrund der fußballerischen Darbietungen entzücken lassen, dann verleiht zumindest der VAR den Begegnungen die erforderliche Dramatik. Die Analyse der Superzeitlupe einer formvollendeten Schwalbe enthemmt Sparkassenangestellte zur Entblößung von physikalischen Kenntnissen aus der Oberstufe. Die weiterführende Erörterung der ausschweifenden Auslegung der Handspielregel könnte ohne redaktionelle Eingriffe direkt im Feuilleton abgedruckt werden. Und dann noch die Resignation vor der technischen Allmacht bei der zentimetergenauen Abseitsentscheidung: der Schnürsenkel war eindeutig näher zum Tor als die Kniescheibe des Verteidigers.

Das Finale 1966 wurde hauptsächlich durch das berühmte Wembley-Tor entschieden. Das Bohei um das umstrittene Tor trägt maßgeblich zur ewigen Erinnerung an dieses Spiel bei. Mit Torlinientechnik oder VAR hätte es das nicht gegeben. Wobei – es hätte vielleicht gar keine hochmoderne Technik gebraucht. Der Ball prallte damals von der Unterkante der eckigen Torlatte ab. Wo wäre der Ball bei einer runden Torlatte gelandet? Eine Frage der Physik, die im Feuilleton diskutiert werden sollte…

Dabei ist der VAR nur die Zwischenstufe auf dem Weg zur technischen Vollkommenheit: der künstlichen Intelligenz. Aufgrund von Algorithmen bekommt der Schiedsrichter bereits kurz vor einem Regelvorstoß einen Hinweis aufs Ohr: „Obacht – gleich gibt es eine Schwalbe“. Dann unterbricht der Unparteiische das Spiel und kann so den Spieler vor Dummheiten bewahren. Und noch perfekter: ein grandioser Sololauf übers halbe Feld. Der anschließende Torschuss würde knapp übers Tor streichen. Ja, würde. Denn die KI erkennt die Ungenauigkeit des Schusses und errechnet blitzschnell den Marktwert eines möglichen Treffers („Tor des Jahrhunderts“). Wie von Geisterhand wird das Tor hin und her verschoben und – voilà – schon landet der Ball im Winkel. Volltreffer!

Nachtrag:

Die Europameisterschaft ist vorbei. Ab jetzt können die Züge wieder pünktlich fahren und in den Stadien kann wieder ordentliches Bier ausgeschenkt werden. Wir gratulieren dem verdienten Siegerteam und bedauern die enttäuschten Engländer. Diese sind wohl einer Fehlinformation aufgesessen. Die Annahme, dass man „automatisch“ irgendwann ein Finale gewinnt, wenn man nur oft genug daran beteiligt ist, stellte sich als falsch heraus. Nein, mit der dargebotenen Spielweise werden unsere Lieblingsinsulaner auch weiterhin den Kürzeren ziehen. Immerhin den ersten Platz in der Kategorie „Anti-Fußball“ haben sie sich verdient. Well done! Aus Sicht der Gastgeber verbleibt das schale Gefühl, dass Deutschland die Spanier fast besiegt hätte. Und selbst der Trostpreis für die schönste Frisur des Turniers ging ohne nennenswerten Widerspruch an die feurigen Iberer. Olé!

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Beitragsbild: Danke an Nullinger