Es war vorherzusehen. Nachdem mein Freund Harald das Projekt „Nichtschwimmer“ erfolgreich beendet hatte, dürstete er nach neuen Herausforderungen. Daher war mir klar, dass meine schnöde „Einladung“ zu einer gemeinsamen Radtour zu einem sportlichen Großereignis ausarten würde. Wir verabredeten uns am frühen Sonntagmorgen zu einer Einstiegsrunde mit dem Rennrad inklusive Finale im Biergarten zur Einnahme von gekühlten Getränken.

Meine Leserschaft kennt den Sportskameraden Harald nun auch schon etwas länger und daher kann ich mir die ausführliche Beschreibung seiner Erscheinung sparen. Sowohl sein Velo als auch seine Kleidung waren eine perfekte Mischung aus sportlicher Ambition und modischem Chic. Wie aus dem Starschnitt des Radsportmagazins entsprungen.

Fürs Protokoll – der Radler Charles Canary trägt eine gelb-grüne Radsportkombi aus dem letzten Jahrhundert mit Kanarienvogelemblem auf der Brust. Jedes Stück Sachertorte optimiert die aerodynamische Passform der Kleidung.

Die ersten Meter vernichteten bereits meine Illusion eines rollenden Frühschoppens. Jeder Minianstieg wurde von Harald für eine Attacke genutzt, als ginge es um die Vorentscheidung beim Frühjahrsklassiker. Die Ortsdurchfahrt durch Niederobertümpelhausen wurde zelebriert wie die finale Runde auf den Champs-Élysées in Paris. Zum Glück hatten wir bald die ersten Kilometer in den Beinen und mit zunehmender Distanz wich bei meinem Mitstreiter das darwinsche Evolutionsprinzip „fressen und gefressen werden“ dem olympischen Dabeiseingedankens.

Nun waren meine Eigenschaften als Unterhalter gefragt. Die Themen wechselten zwischen den Speisekarten von alteingesessenen Wirtshäusern in der Pampa oder -altersgerecht – die aktuelle Rangliste der Körperleiden und Blessuren. Passend dazu meine Antwort auf seinen Hinweis, dass ich meine quietschende Kette mal wieder ölen müsste: „Das ist nicht meine Kette, die da quietscht, sondern mein Knie.“

Für den sportlichen Endspurt verschafften mir meine Kenntnisse bezüglich der mentalen Veranlagung meines Mitstreiters die entscheidenden Vorteile. Rechtzeitig vor dem letzten Anstieg lenkte ich unser Gespräch auf „sportliche Höchstleistung“ und „professionelle Vorbereitung“. Scheinbar belanglos reihte ich ein paar gewichtige Sätze über den Zusammenhang von Leistung am Berg und Gewichtsminimierung. Es war unübersehbar, wie Haralds Tritte mit jedem Gedanken an unnötige Pfunde schwerfälliger wurden. Und allerspätestens mit der Bemerkung „dass sich die Tour-de-France-Radler vor schweren Bergetappen sogar die Zehennägel extra kurz schneiden würden, um Gewicht zu sparen“, da war es um seinen Willen geschehen. Der krönende Abschluss war mein Kommentar, dass ich für alle Fälle ein Tau, mit dem man gewöhnlicherweise Kinder auf dem Fahrrad ziehen könnte, dabei habe. Bei Bedarf könnte ich ihn in den Biergarten abschleppen. Vor Erschöpfung konnte mir Harald nur ein heftiges Augenrollen spendieren.

Bereits unmittelbar nach Genuss des zweiten Getränks mit offenbar schmerzbetäubender Wirkung war Harald wieder ganz der Alte. Aus den euphemistischen Schilderungen der aktuellen Etappe, bei der er haarscharf am gelben Trikot vorbei geschrammt ist, wurden direkt tollkühne, wagnisreiche Pläne für kommende Ausfahrten. Ich werde ihn bei Bedarf daran erinnern…

A propos Augenrollen: Sir Paul McCartney gibt als eine mögliche Ursache für seine schier unfassbare Fitness tägliches Augenyoga an. Der Rockopa liefert auch mit 80 Jahren noch packende, stundenlange Bühnenshows ab. Dabei fiel mir auf, dass ich jahrelang auf einem interpretatorischen Irrweg unterwegs war. Immer wenn ich bei einer Person ein Augenrollen entdeckte, dann verbuchte dies meine egozentrische Sichtweise in den Kategorien: Unbill, Groll oder auch schlichtweg Tadel. Gegenüber meiner Wenigkeit. Tatsächlich aber übte sich die augenrollende Person wohl eher in der Methode Selbstberuhigung und Entspannung, um meine Torheit zu ertragen. Jeder Leser, der in diesem Moment mit den Augen rollt, darf sich ertappt fühlen…

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Beitragsbild:

Foto von Charles Canary