In Zeiten der inflationären Knappheit sollten wir dankbar sein für jegliche Darbietung, die uns gratis präsentiert wird. Und das passiert tatsächlich öfter als gedacht. Neulich an der Supermarktkasse. In einer Verschnaufpause. Diese paar Momente der Besinnung zwischen dem „Gegenstände möglichst optimiert aufs Band schlichten“ und der folgenden Disziplin „Einkaufstaschentetris“. Gleich einem Abfahrer vor dem Start auf der Streif gehe ich mit geschlossenen Augen die entscheidenden Handgriffe durch. Eine Phase der absoluten Konzentration. Gedanklich lasse ich mir von meinem Betreuer Schnee ins Gesicht werfen und dehne meine relevanten Muskeln an einem imaginären Seilzug.
Doch dann – Vorhang auf für ein Impulsreferat! Scheinbar wurde die mir folgende Kundin von meiner Auswahl an Lebensmitteln auf dem Band zu einem Vortrag zur Thematik „Bio“ animiert. Es folgte ein Potpourri mit den Zutaten: „Verarsche“, „Marketing“, „Flächenfraß“… Selbst die meinerseits – zur Abwehr – überlaut geführte Routinekonversation mit dem Kassierer konnte die seitliche Faktenattacke nicht unterbinden. Im Gegenteil – der nahtlose Übergang zu den Themen „Nutztierhaltung“ und „Milchwirtschaft“ deutete die Omnipotenz der Belehrenden an. Mir blieb nur die Flucht. Wahllos und überhastet stopfte ich die Waren in meine Taschen und verletzte dabei eiserne Regeln des Einsortierens. Auf die Gefahr hin, dass die unüberlegte Anordnung einer Dose mit Tomatenmark und eines Vanillejoghurts versehentlich künstlerisch veredelt werden könnte. Geschüttelt – und gerührt.
In diesem besonderen Fall konnte ich der Wissensflut entkommen. Doch die Hyperexperten lauern überall. Permanent werde ich mit sachkundigen Eruptionen der vielfältigsten Art konfrontiert. Einst hieß es etwa noch schlank und schnöde: „der Strom kommt aus der Steckdose“. Heute wird die Anordnung der hauseigenen Photovoltaikanlagen auf Bierdeckeln skizziert wie vormals die Mannschaftsaufstellung der zweiten Mannschaft von Fortuna Düsseldorf. Und mit den Leistungsdaten eben jener Installationen wird jongliert wie ehedem mit den Ablösesummen der Starkicker.
Bis vor einem Jahr war militärtaktisches Grundwissen hauptsächlich bei der Schlacht der Handtücher um die Vorherrschaft am Pool vonnöten. Und jetzt schwadroniert eine Heerschar von Stammtischgenerälen wahlweise von Waffengattungen oder Völkerrechtsparagraphen. Kein Witz: Harald hat mir vorhin erzählt, dass letztens im Wirtshaus ein Trinkkumpane nach einem Vortrag über Kriegsführung auf dem Weg zur Toilette die Hand seitlich im Hemd versenkt hielt – wie einst Napoleon.
Interim-Diplomvirologen haben sich in Windeseile zu Nobelpreisträgern in Physik umschulen lassen. Beflügelt von der trügerischen Zuversicht, dass das U in YouTube für Universität stünde und exegetisches Glotzen auch nicht sinnloser sein könne als jahrelanges Gebimse. Eine enzyklopädische Fata Morgana. Erfreulicherweise kostenlos. Leider auch umsonst. Von wegen Fachkräftemangel. Es bedarf einer ausgiebigen Suche, bis sich jemand finden lässt, der zu einer Materie nichts zu sagen hat. Es herrscht eine regelrechte Expertenplage.
Abschließend zitiere ich mit Vergnügen einen ehemaligen Kollegen: „Ich habe keine Ahnung. Und davon eine ganze Menge.“
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Beitragsbild von JR Harris
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