Da sich Monsieur Canary von so unsinnigen Dingen wie Diplomarbeit und Bewerbungen aufhalten ließ, mussten sich seine Leser etwas gedulden. Doch kaum ist das Schlimmste überstanden, wird er wieder von der Muße geküsst.

16 Euro und 30 Cent kostete mich der Spaß. Aber es war jeden einzelnen Cent wert. Es wurde Comedy der Extraklasse geboten.

Es war ein kalter Freitagmorgen. Angekommen am Hauptbahnhof in München begab ich mich zum Ticketschalter. Nach Erwerb meines Billets hetzte ich unverzüglich zum angegeben Bahnsteig. Glücklicherweise fand ich ratzfatz einen Sitzplatz und vertiefte mich in die Lektüre einer süddeutschen Tageszeitung.

Ab und an wagte ich einen Blick über den Zeitungsrand hinaus und musterte meine Abteilgenossen. Am anderen Ende des Abteils hat sich eine Gruppe von acht Senioren niedergelassen. Wie ich ihrer, von Vorfreude erfüllten, Unterhaltung entnehmen konnte, waren sie auf dem Weg nach Nürnberg zum Christkindlmarkt. Der Leiter der Gruppe saß jedoch ein paar Sitzreihen abseits und studierte intensiv eine auflagenstarke deutsche Tageszeitung der Premiumklasse. Es stellte sich heraus, dass er Gerhard hieß und früher als Zugbegleiter tätig war. Aufgrund dieses Kompetenzvorsprungs eignete er sich hervorragend für die Position der Führungsperson. Die Kommunikationslust der Seniorenfraktion wurde auch durch die räumliche Distanz zu der Splittergruppe nicht gebremst. Eines der nicht mehr ganz jungen Schäflein rief dem wachsamen Hirten zu: „Gerhard – Freust Du Dich schon auf den Weihnachtsmarkt?“ Der Gefragte entgegnete: „Und wia! Unter 15 Glühwein geh ich heit ned hoam!“

In den Sitzen auf der anderen Seite des Zuges saßen zwei etwas seltsame Gestalten. Beide hatten immer noch ihre Mäntel an und der eine trug sogar noch einen Schal. Der Andere wiederum hielt ein Mini-Schachspiel in der Hand. So eines mit magnetischen Spielsteinen. Ein klassisches Weltspartagsgeschenk. Die Spielfiguren blieben jedoch während der ganzen Zeit unberührt. Es handelte sich wohl um eine Art von Telepathieschach auf einer höheren geistigen Ebene. Die Beiden unterhielten sich über ihre Spielleidenschaft. Von Zeit zu Zeit gelang es mir einen Gesprächsbrocken aufzuschnappen. „Dann kam der Moment in meinem Leben, als ich mir Casinoverbot erteilte“, meinte der Schalträger. Der Schachbretthalter nickte zustimmend und sah gedankenverloren aus dem Zugfenster. Nach einigen Augenblicken des Überlegens, ließ er sich zu einem Satz hinreißen, der in mir wahre Lachkrämpfe auslöste: „Viele machen beim Roulette den Fehler, dass sie auf die falsche Zahl setzen!“ Uaaahhh!!

Auf einmal drang eine etwas blechern klingelnde Melodie an mein Ohr und dazu sang eine etwas kratzende Stimme: „Kennst Du die Berge – die Berge Tirols“. Gerhard´s Klingelton! „El Commandante“ kramte in der Tasche seiner, von den Spuren des Lebens als Hobbygärtner gezeichneten, Cordhose nach seinem Mobiltelefon. Nach einem zackigen „Ja- hier Gerhard“ folgten noch ein paar weitere kurzatmige „Ja“s und „Jawohl“s. Dann war die Durchsage beendet.

In Freising kam eine Mittvierzigerin in das Abteil und nahm gegenüber von mir Platz. Sie entfaltete die regionale Zeitung und fing an zu lesen. Auf einmal kam es zu einem vereinzelten „Blop“. Entlang der Gepäckablage, genau über meinem lesenden Gegenüber, bildete sich ein Tropfen, der dann nach unten fiel und ihre Zeitung benässte. Da! Schon wieder ein „Blop“. Und dann gleich wieder: „Blop!“ Schon war mein Vis-à-Vis etwas genervt. Sie blickte nach oben und suchte nach der Ursache der ungewollten Bewässerung. Aus ihrer cremeweißen Handtasche fischte sie ein bereits benutztes Papiertaschentuch und versuchte die Nassstelle wegzuwischen. Es half nix. Kurz darauf setzte das H2O-Bombardement erneut ein. „Da tropft was!“ sagte sie in einem genervt verzweifelten Ton. Doch keiner der Mitreisenden fühlte sich angesprochen. Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen das Malheur zu beheben, gab sie auf und setzte sich um. Der Platz neben Gerhard, dem offiziellen Abteilssupervisor, war noch unbesetzt. Sofort weihte sie den hilfsbereiten Ex-Bahnerer in das Dilemma ein. Gerhard nahm sich der Sache gerne an. Er inspizierte das Corpus Delicti sehr gründlich und verkündete dann sein Urteil: „Das kommt aus dem Koffer! In dem Koffer ist eine Flasche zerbrochen!“ Der Grundwehrdienstleistende, welcher mir schräg gegenüber saß und eine Fußballfachzeitschrift studierte, bemerkte völlig sachlich: „Das ist Schnee. Der Koffer stand im Schnee und nun tropft das Tauwasser. Ist mir egal, denn es ist nicht mein Koffer!“ Gerhard konterte, basierend auf seiner arbeitslebenlangen Erfahrung: „Nie im Leben! – Das werden wir gleich haben!“ Er stand auf und wischte mit seinem Finger durch die feuchte Stelle. Dann leckte er seinen Finger ab. Gebannt blickte die Mehrzahl der Mitreisenden auf den Probanden und erwartete das Ergebnis der Finger-Probe. „Schnee“ verkündete Gerhard lapidar. Nun äußerte sich die Dame zu meiner rechten, die bisher dem ganzen Treiben keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte. „Das hätte ich ihnen gleich sagen können. Denn ich habe nichts Zerbrechliches in meinem Koffer.“ Damit war das Thema beendet. Schon bald darauf kam der Zug in Regensburg an, und der Vorhang für diese Show der zweiten Klasse (Nichtraucher!) fiel.